Geschichte der Patientenbeteiligung

Beteiligt sind Patienten eigentlich immer: Erstens ganz konkret an ihrer Behandlung, als Leidende, Geduldige. Und zweitens als Bürger, die das Gesundheitssystem so hinnehmen müssen, wie sie es vorfinden; nur alle vier oder fünf Jahre können sie ihre Stimme einem politischen Gesamtpaket geben, einer Partei, deren Programm eben auch gesundheitspolitische Positionen enthält, die aber kaum jemals wahlentscheidend sein dürften.

Patientenbeteiligung bei der medizinischen Behandlung

Schon 1992 forderte der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen, das damals (und auch heute noch) vorherrschende Arzt-Patient-Verhältnis, das von einer zwar wohlwollenden, aber doch bevormundenden Haltung der Ärztin geprägt war und ist, durch ein Partnerschaftsverhältnis abzulösen:

An die Stelle des ‚benevolenten Paternalismus‘ muß als zeitgemäße Form der Arzt-Patient-Beziehung ein ‚Partnerschaftsmodell‘ treten. Darin gibt der Arzt vermöge seines medizinischen Wissens den Rahmen vor, innerhalb dessen der Patient mit Hilfe des Arztes seine Entscheidungen trifft. (Sachverständigenrat 1992, Ziff. 363)

Das war und ist auch heute noch eine revolutionäre Sichtweise. Wie soll die Patientin medizinische Entscheidungen treffen, wo sie doch gar nichts von Medizin versteht? Auch darauf hat der Sachverständigenrat eine wundervoll ausformulierte Antwort gegeben:

Entscheidungen zwischen Alternativen unterschiedlicher Risiken und Chancen sind individuelle Wertentscheidungen (value judgements), die nicht mit medizinischem Sachverstand gefällt werden können, sondern ausschließlich von den Betroffenen selbst aufgrund der Beratung durch einen medizinischen Sachverständigen. (Sachverständigenrat 1992, Ziff. 361)

Die Ärztin ist also nicht die, die sagt, was zu tun ist, sondern „nur“ eine Beraterin. Die Patientin allein hat die Entscheidungsgewalt. Und zwar nicht nur in Fällen, in denen mehrere Behandlungsmöglichkeiten zur Auswahl stehen, etwa wenn Rückenschmerzen mit Massage, Krankengymnastik, Spritze oder Operation behandelt werden könnten, sondern bei jeder Diagnostik und Behandlung. Denn Alternativen unterschiedlicher Risiken und Chancen gibt es immer: Eine Krankheit kann behandelt oder nicht behandelt werden; eine Diagnose kann gesucht (und häufig auch gefunden) oder erst gar nicht gesucht werden. Bei schwerkranken und sterbenden Patienten verzichtet man gar nicht so selten auch schon darauf, mit anstrengenden und eingreifenden Methoden genaue Diagnosen zu stellen, um sie nicht zu viel zusätzlichem Stress auszusetzen.

Erst ein Jahrzehnt nach diesen Appellen der Sachverständigen kam erste Bewegung in die Sache. Die Bundesregierung förderte zehn Projekte, die erproben sollten, wie man Patienten zu Partnern machen kann. „Der Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess“ hieß das Programm (http://www.patient-als-partner.de/). Wegweisend waren theoretische und praktische Berichte aus Großbritannien, dort hieß das neue Paradigma shared decision making, auf Deutsch etwa gemeinsames oder geteiltes Entscheiden. Leider übersetzten die deutschen Wissenschaftler die elegante englische Formulierung und ihre Abkürzung SDM mit den Worten „Partizipative Entscheidungsfindung“ und schufen die Abkürzung „PEF“. Das klingt mehr nach einem Pistolenschuss als nach Partnerschaft und gemeinsamer Überlegung, Beratung und Entscheidung.

Die zehn Forschungsprojekte an deutschen Universitäten fanden heraus, dass die gemeinsame, partnerschaftliche Entscheidung keineswegs so viel teurer ist wie manche befürchteten, dass sie aber wesentlich zufriedenere Patienten und eine effektivere, zielgerichtetere Gesundheitsversorgung verspricht (Härter, Loh, Spies, 2005; Scheibler 2004; Scheibler, Pfaff, 2003; Edwards, Elwyn, 2001; http://www.forum-gesundheitspolitik.de/artikel/artikel.pl?rubrik=1121).

Patientenbeteiligung am Gesundheitssystem 

Selbsthilfegruppen sind kein Phänomen der letzten Jahre oder Jahrzehnte. Die Anonymen Alkoholiker führen ihre Entstehung in den USA auf das Jahr 1935 zurück und der erste Selbsthilfeverein für Gehörlose entstand in Deutschland bereits im Jahr 1848. Und doch kann man von einer sozialen Bewegung erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts sprechen, als Zehntausende für ein sozialeres und an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiertes Gesundheitssystem zu kämpfen begannen – und zwar nicht nur Kranke und Behinderte, sondern auch und vor allem „Gesundheitsarbeiter“, also Professionelle, die eine neue ethische Orientierung ihrer Arbeit einforderten. 1980 folgten 12.000 Menschen dem Aufruf des Berliner Gesundheitsladens zum ersten „Gesundheitstag“. Das war der Startschuss für eine Bewegung, die neue Wege einer sozialen Medizin suchte und zum Widerstand gegen das als verkrustet erlebte Gesundheitssystem aufrief. Schon der zweite bundesdeutsche Gesundheitstag brachte ein Jahr später in Hamburg ca. 17.000 Teilnehmer fünf Tage lang in lebhafte Diskussionen. Diese Gesundheitsbewegung hat bis heute vielfältige Nachwirkungen: Selbsthilfegruppen, Vereine, Organisationen, Lehrstühle, Forschungsprojekte, ja auch viele staatliche Stellen ließen sich von ihr zu neuen Wegen anregen oder sie wurden gar erst in Folge oder im Zusammenhang mit dieser Bewegung gegründet. Vermutlich weiß niemand genau, was alles auf sie zurückzuführen ist. Bei vielen heute selbstverständlichen Institutionen wird der Zusammenhang jedoch ausdrücklich beschrieben. So wird beispielsweise auch die Patienteninformation und -beratung, wie sie seit einigen Jahren von der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) an 21 Standorten angeboten wird, historisch auf die Gesundheitsbewegung der 70er und 80er Jahre zurückgeführt.

Eine dieser Spätwirkungen der deutschen Gesundheitsbewegung dürfte sein, dass in den 90er Jahren auch verantwortliche Politiker begannen, die Erfahrungen von Patienten mit dem Gesundheitssystem für so wertvoll zu halten, dass es sich lohnen würde, sie stärker in die Gestaltung dieses Systems einzubeziehen. Andere europäische Länder leisteten allerdings mindestens ebenso wichtige Vorarbeiten. In den Niederlanden etwa war schon in den 70er Jahren mit dem NPCF (http://www.npcf.nl/) ein mächtiger Patientenverband entstanden, der Deutschland als Vorbild dienen könnte. Eine wichtige Marke auf dem Weg, Patienten aktiv in die Systemgestaltung einzubeziehen, ist auch die Empfehlung der Gesundheitsministerkonferenz der 40 Staaten des Europarates vom November 1996, in der es heißt:

Ein neues soziales Abkommen sollte (…) sicherstellen, dass Gerechtigkeit und Patientenrechtsbelange zu einem wesentlichen Bestandteil der Gesundheitssysteme werden; es sollte eine Reihe wichtiger Probleme auf der Patientenebene, auf der Ebene der Leistungsanbieter und auf der staatlichen Ebene behandeln: ein trilateraler Sozialpakt zwischen Patienten, Leistungserbringern und Kostenträgern. Zu diesem Zweck sollten die Regierungen die Institutionen und Instrumente des politischen und sozialen Dialogs zwischen diesen Partnern stärken, um ihnen die gleichen Möglichkeiten zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung zu geben und um gesellschaftliches Unternehmertum zu fördern. (…) Der partizipative Verhandlungsprozess für diese Vereinbarung würde das Interesse an demokratischen Verfahren erneuern und das Vertrauen in die Demokratie erhöhen und zu einem Bewusstsein der Teilhabe und der Verantwortung führen.

Gefordert wird da ein trilateraler Sozialpakt zwischen Patienten, Leistungserbringern und Kostenträgern“, bei dem alle drei Partner die gleichen Möglichkeiten zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung haben. Das heißt konkret: Die Patienten sollen eine ebenso durchsetzungsstarke gesellschaftliche Gruppe werden wie es Leistungserbringer (Ärzte, Krankenhäuser u. a.) und Kostenträger (gesetzliche und private Krankenversicherung) bereits sind. Das sind sehr ambitionierte Ziele. Geht das überhaupt? Können Patienten gesellschaftlich so stark werden – wo sie doch individuell so schwach scheinen, weil sie krank sind, weil sie Schmerzen haben und weil sie sich mit sich selbst beschäftigen müssen, mit ihrer Krankheit, ihrer Seele, ihrem Leben…?

Trotz der Vielzahl von Hindernissen gibt es gar nicht so wenige Patientenorganisationen. Die Bundesregierung hat Ende 2003 mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) festgelegt, dass zwei Typen von Organisationen in Gremien der Gemeinsamen Selbstverwaltung von Leistungserbringern und Kostenträgern die Patienteninteressen vertreten sollen: (1) die vielen Gruppen, die im Deutschen Behindertenrat zusammengeschlossen sind – das sind die „Betroffenenverbände“, also Menschen, die sich wegen chronischer Krankheit oder Behinderung zusammengefunden haben, hier dominieren die größeren Organisationen aus der Selbsthilfebewegung, denen viele kleinere angeschlossen sind; und (2) drei „Beraterverbände“, das sind die bundesweiten Zusammenschlüsse der Selbsthilfe-Kontaktstellen, der Patientenstellen und der Verbraucherzentralen, sie gelten als unabhängige Berater und Unterstützer der Patienten.

Es gibt also inzwischen doch so etwas wie eine Patientenbewegung, sogar eine höchst offiziell anerkannte und legitimierte. Für die Organisationen, die sie vertreten sollen, wird im Sozialgesetz (§ 140f SGB V) eine sehr komplizierte Wortschlange verwendet: „die für die Wahrnehmung der Interessen der Patientinnen und Patienten und der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen maßgeblichen Organisationen“.

Warum braucht man dafür so viele Wörter? Vielleicht weil in dieser „Bewegung“ nicht nur die Betroffenen ihre Interessen selbst vertreten, sondern zusätzlich unabhängige Professionelle ihnen zu Hilfe kommen sollen – und müssen. Das ist nötig, weil Patienten krank sind, immer wieder ausfallen, Schmerzen haben, operiert werden müssen, manchmal sogar viel zu früh versterben. Weil sie sich eben ganz alleine für die Bildung einer Bewegung nur bedingt eignen, ist die Ergänzung durch unabhängige Berater und Unterstützer sehr sinnvoll, ja notwendig.

Auch vor 2004 wurden hier und da schon Patientenvertreter auf freiwilliger Basis beteiligt: bundesweit etwa Ende der 90er Jahre bei der Diskussion der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) über eine „Patientencharta“; in den Ländern teils noch früher, z.B. in Nordrhein-Westfalen an Landes-Gesundheitskonferenzen oder in Hamburg schon seit Ende der 80er Jahre an der Vergabe von Selbsthilfegruppen-Fördermitteln. Eine bundesweite gesetzliche Grundlage bekam die Patientenbeteiligung aber erst durch das Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GMG).

Etliche Länder kennen schon lange kommunale oder regionale Gesundheitskonferenzen und haben diese teils auch in ihren Landesgesetzen verankert. Beispielsweise wurden in Hessen 2011 durch das novellierte Krankenhausgesetz sechs regionale Gesundheitskonferenzen geschaffen, in denen immerhin jeweils ein Patientenvertreter Sitz und Stimme hat. Nordrhein-Westfalen hat schon Mitte der 90er Jahre kommunale Gesundheitskonferenzen mit Bürger- oder Patientenbeteiligung erprobt und 1998 im ÖGD-Gesetz verankert.